Armut hinter goldenen Fassaden. Dieser Satz beschreibt aus meiner Sicht die Situation, in der viele landwirtschaftliche Familien leben sehr eindrücklich. Der Satz stammt nicht von mir. Er stammt aus einer Erntedankbotschaft aus den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts des damaligen Bischofs des Bistums Rottenburg-Stuttgart Walter Kasper.
Wenn wir – von außen – ein Haus betrachten, dann sehen wir zunächst nur die Fassade. Wir sehen, ob diese Fassaden gepflegt sind
oder nicht, ob die Farbe frisch aussieht oder ob sie stumpf ist, ob der Putz bröckelt oder ob aufgeräumt ist. Wir sehen das, lange bevor wir Menschen begegnen oder gar mit ihnen sprechen. Und
genauso ist das mit landwirtschaftlichen Betrieben. Genauso ist es, wenn wir Betriebsstätten, Hofstellen, Bauernhöfe betrachten. Wir sehen nur die Fassade. Und wir sehen eine Fassade, die geprägt
ist von einem Wirtschaftsbetrieb. Es ist ein anderer Wirtschaftsbetrieb, als es der Bauernhof war, den wir von Kindheit an mit ganz anderen Augen betrachten als andere
Wirtschaftsbetriebe.
Die meisten von uns haben irgendwann einmal Bauernhof gespielt. Wir waren damals Bäuerin und Bauer und haben unseren Hof gespielt.
Das spiegelt eine tiefe Verbindung mit den Lebensgrundlagen wieder und das vermittelt zugleich eine Vorstellung von dem was Landwirtschaft emotional bedeutet und ausmacht. Demgegenüber steht die
Wirklichkeit unserer gegenwärtigen Wahrnehmung. Tatsächlich wird der Personenkreis, der Landwirtschaft aus echter eigener Anschauung und hintergründigem Verstehen kennt, ja immer kleiner.
Wenn wir der Frage nach Armut in der Landwirtschaft nachgehen, dann findet das vor diesem Hintergrund statt. Er hat emotionale und
ökonomische Anteile. Der emotional aufgeladene Bauernhof unserer Kindheit ist zugleich ein Wirtschaftsbetrieb, der nach den Gesetzen des Marktes funktioniert.
„Armut hinter goldenen Fassaden“ beschreibt die Wirklichkeit der Betrachtung und zugleich die grundlegende Schwierigkeit,
erinnertes Gefühl und ökonomische Fakten in Verbindung zu bringen. Grundsätzlich unterliegt Armut in der Landwirtschaft den gleichen Bedingungen wie Armut in der übrigen Gesellschaft, mit einigen
Besonderheiten allerdings:
Als Besonderheit ist die ganz eigene Prägung der Altersarmut zu nennen. Freilich findet auch sie ihre grundsätzliche Entsprechung
in der übrigen Bevölkerung, hat aber andere, historisch begründet ganz andere Ursachen. Die Altersversorgung der Bäuerinnen und Bauern ist – vor Einführung der Landwirtschaftlichen
Sozialversicherung – materiell ausschließlich an die Ertragsleistung des Hofes gebunden, der von Generation zu Generation möglichst in der Familie weitergegeben wurde. Auch nach der Einführung
der Landwirtschaftlichen Sozialversicherung war die Altersrente in gewisser Weise als Taschengeld gedacht. Die aktuelle Rentenhöhe von rund 500 Euro für Ehepaare macht das sehr deutlich. Sie
sollte den in der Landwirtschaft so genannten Altenteilern ein Mindestmaß an Selbstbestimmung ermöglichen. Juristisch ist die Altersversorgung an die jeweilige Ausgestaltung der erbvertraglichen
Regelungen gebunden. Und emotional ist sie abhängig von der Erfüllung und der Erfüllbarkeit dieser vertraglichen Regelungen. Die emotionale Ausgestaltung ist dabei so unterschiedlich wie die
Menschen, die aufeinander angewiesen sind. Das Meistern dieser Generationenbeziehungen ist sicher eine der größten Herausforderungen für die Betriebsleiterfamilie. Das gilt in besonderer Weise
für die Frauen der Betriebsleiter, die die Versorgung und Pflege der Altenteiler überwiegend übernehmen.
Solange landwirtschaftliche Betriebe ökonomisch ein Auskommen für zwei bis drei Generationen erwirtschaften, kann die
Altersversorgung sichergestellt werden. Wenn der Betrieb das nicht mehr sicherstellen kann, dann sind Altenteiler wie Betriebsleiter in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht. Der Betrieb muss
aus wirtschaftlichen Gründen dann u.U. ganz aufgegeben werden. Für die Altenteiler bedeutet das dann materielle Armut, die häufig nur durch Hilfen der Gemeinschaft aufgefangen werden kann.
Ganz allgemein gesprochen ist für mich Armut zunächst der Verlust von Lebensqualität. Das ist eine Definition, die mir die ganz
unterschiedlichen Formen von Armut bündelt und zugleich offen ist für die individuelle Wahrnehmung von Armut. Armut ist in Deutschland und Mitteleuropa freilich etwas ganz anderes als Armut in
den Hunger- und Kriegsgebieten unserer Erde.
Der Direktor des Sozialwissenschaftlichen Instituts der EKD, Prof. Dr. Gerhard Wegener hat unlängst in einem vielbeachteten
Vortrag auf der Landessynode der EKKW Armut aus kirchlicher Perspektive beleuchtet. Er nennt „Gerechte Teilhabe“ als kirchliche Leitorientierung. Vor dem Hintergrund einer solchen Orientierung
können wir auch Armut in der Landwirtschaft den jeweils Betroffenen gemäß einordnen. Teilhabe heißt für mich, dass jeder Mann und jede Frau seiner und ihrer Bestimmung gemäß leben kann. Dabei
geht es immer um eine subjektive und individuelle Wahrnehmung. Menschen in der Landwirtschaft werden das sicher ganz anders beschreiben als Menschen aus anderen Berufsgruppen und mit anderen
Tätigkeitsfeldern.
Aus vielen Gesprächen mit Bäuerinnen und Bauern weiß ich, dass das Vermögen an Grund und Boden nicht wirklich als Vermögen oder
gar Reichtum angesehen wird. Und auch einen echten materiellen Wert besitzt es immer nur dann, wenn es auch einen Markt für Grund und Boden und einen entsprechend hohen Verkehrswert gibt. In
Ballungsräumen und ihrem unmittelbaren Umfeld ist der Verkauf von Land sicher kein so großes Problem wie in den Mittelgebirgsregionen. In Nordhessen ist das häufig ein ausgesprochen schwieriges
Unterfangen. Dass Bäuerinnen und Bauern Grund und Boden als Grundlage des Wirtschaftsbetriebes prinzipiell nicht veräußern wollen, ist einerseits unmittelbar einsichtig. Sie halten häufig selbst
dann daran fest, wenn es im Grunde keine Alternative dazu gibt. So habe ich erlebt, dass ein alleinstehender Landwirt eher dazu bereit war sein Wohnhaus zu verkaufen als sein Land.
Die Evangelische Landjugendakademie Altenkirchen und die Uni Kassel haben in den vergangenen eine ganze Reihe von
Hofübergabe-Seminaren außerhalb der Eigentümerfamilie durchgeführt. Eine Erfahrung: Bäuerinnen und Bauern ohne Hofnachfolger in der eigenen Familie suchen einen Nachfolger/eine Nachfolgerin, weil
sie den Hof als Wirtschaftsbetrieb fortgesetzt sehen wollen und sich nur als Verwalter auf Zeit und nicht als Eigentümer verstehen.
Das sind für mich eindrucksvolle Beispiele für die mit der Leitorientierung „Gerechte Teilhabe“ verbundene
Selbstbestimmung.
In wie weit die rasanten Veränderungen auf den Weltagrarmärkten und die wachsende Bedeutung von Biomasse zur Energiegewinnung den
Bodenmarkt verändern werden, kann heute sicher noch nicht in der ganzen Tragweite abgesehen werden. Sicher ist in jedem Fall, dass Boden wieder verstärkt als Kapitalanlage begehrt ist.
Im Folgenden nenne ich sechs Dimensionen von Armut, die in der aktuellen Armutsforschung auch im kirchlichen Kontext unterschieden werden und beziehe sie jeweils in Stichworten auf die Menschen in der Landwirtschaft:
An dieser Stelle will ich meine Ausführungen zusammenfassen und abschließend noch auf mein Bild von gerechter Teilhabe zurückkommen: Armut in der Landwirtschaft hat in ihren Ausprägungen Ähnlichkeit mit Armut in der Gesamtgesellschaft, weist allerdings Besonderheiten auf, die mit dem Begriff nicht einfach zu fassen sind. Hof- und Wirtschaftsgebäude, Grund und Boden leisten nur dann einen Wert zur materiellen Versorgung, wenn sie nicht längst als Kreditsicherheiten dienen und es auch einen wirklichen Markt- oder Verkehrswert gibt.
In meiner Tätigkeit in der ländlichen Familienberatung haben wir so etwas wie ein Motto, das Gerechte Teilhabe möglicherweise sehr
gut beschreiben hilft: "Wir wollen Menschen wieder in Bewegung bringen". Wir sind dabei getragen von der Überzeugung, dass jeder Mensch über je eigene Fähigkeiten und Ressourcen verfügt. Wenn
Menschen in den genannten Dimensionen von Armut leben, sind diese Ressourcen oft verschüttet, zugedeckt und häufig wenig sichtbar. Eine Aufgabe von Familienberatung kann es dann sein, diese
Ressourcenschätze wieder heben zu helfen und Menschen darin zu stärken, je eigene Fähigkeiten (wieder) zu entdecken, eigenen Fähigkeiten zu vertrauen und neue erste Schritte zu gehen. Dabei
Unterstützung zu leisten ist aus meiner Sicht ein Auftrag, der unmittelbar aus dem Evangelium erwächst.
Tun wir das in kirchlichen Einrichtungen und Kirchengemeinden: sei es in der Tafelarbeit, der Familienhilfe, der
Hausaufgabenhilfe, der Familienberatung oder anderen Angeboten - darauf kommt es aus meiner Sicht an: Ermutigen wir Menschen dazu, wieder in Bewegung zu kommen!
Hartmut Schneider,
Geschäftsführer Familie&Betrieb - Ländliche Familienberatung